Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge leitet sie.
Jesaja 11, 6
Morgens stehen sie auf, machen sich vielleicht einen Kaffee, stellen das Radio an und können es nicht fassen. Über Nacht ist Krieg ausgebrochen. Sie sind völlig überrumpelt. Über Nacht sind Menschen, die auch nicht viel anders sind und leben und denken und reden als man selbst, zu tödlichen Feinden geworden. Die Eltern wecken die Kinder, holen sie zum Frühstückstisch. Sie erklären den Kleinen, dass sie sich von nun an vor den Leuten fürchten müssen, die über Nacht Feinde geworden sind. „Aber bei denen sind doch auch Kinder, warum sollen die plötzlich gefährlich sein?“, wundert sich der kleine Junge. Er wird es schnell begreifen. Nach wenigen Tagen wird er gelernt haben, Angst zu haben. Und je älter und vernünftiger die Kinder sind, desto mächtiger wird sich bei ihnen die Angst zu einem zähen Hass gegen die Feinde verdichten. Dass Menschen über Nacht von Frieden auf Krieg umschalten können, vor allem diejenigen, die vernünftig sind und Verantwortung tragen, ist furchtbare Wirklichkeit. Die Logik der Gewalt, der Angst und des Hasses, in die ein Kriegsausbruch die Menschen zwingt, ist eine unheimliche Realität.
Die Vision vom Friedensreich im elften Kapitel des Jesajabuches ist einer der traditionellen Predigttexte zum Weihnachtsfest, an dem die Christen Jesus als den von Jesaja verheißenen Friedensfürsten bekennen. Der Prophet verkündete in Kriegszeiten eine Vision vom Ausbruch des Friedens. „Welch eine Träumerei, in Kriegszeiten Friedensmärchen zu predigen“, denken vernünftige Erwachsene, vor allem die, die Verantwortung tragen, wenn sie die Worte des Propheten lesen: Der Wolf, also der Aggressor, beantragt beim Lamm, also dem Angegriffenen, Asyl. (So steht es im Hebräischen Text: Der Wolf wird sich beim Lamm als „Beisasse“ oder „Proselyt“ niederlassen, also er wird gewissermaßen zum „Lammsein“ übertreten oder konvertieren.) Der Löwe wird grasfressender Vegetarier und wartet morgens bei den Kälbern, damit man ihn auf die Weide führt. Und zwei Verse weiter: Giftschlangen werden zu niedlichen Kuscheltieren. Die Erwachsenen können den Ausbruch des Friedens noch gar nicht fassen. Sie wissen ja, wie gefährlich diese Tiere sind, leidvolle Erfahrung verbietet es ihnen geradezu, den Frieden zu ergreifen. Es sind die Kinder in ihrer ahnungslosen Furchtlosigkeit, die als erste etwas mit dem Frieden anfangen können. Ein kleiner Junge nimmt ein Stöckchen und führt als kleiner Hirte Rind und Raubtier aus dem Dorf auf die Weide. Ein Säugling grabscht mit seinen Händchen nach der Schlange, und es ist Frieden.
Sind wir bereit für den Ausbruch des Friedens? Beim Lesen der Bildrede des Propheten bleiben meine Gedanken an der Erwähnung der Kinder hängen. Im Erdgeschoss des Hauses, in dem ich wohne, ist ein internationaler Kindergarten. Kleine Franzosen und Algerier, kleine Belgier und Kinder aus dem Kongo, drei- und vierjährige Russen und Deutsche buddeln gemeinsam in der Sandkiste und wuseln über den Hof. Von den Kriegen, die ihre Urgroßväter einst gegeneinander geführt haben, von dem Leid und Unrecht, das die einen den anderen angetan haben, wissen sie nichts. Wenn ich die Kinder sehe, muss ich an das Wort unseres Herrn denken, dass wir umkehren und von den Kindern lernen sollen (Mt 18,3). Kein Mensch ist dazu geboren, eines anderen Menschen Feind zu sein.
Martin Rothkegel
Theologische Hochschule Elstal